07. Mär 2022
Durch die Einführung des Lehrplans 21 ging «ein Ruck» durch die Schullandschaft. Schulleiterin Corina Robbi und Schulleiter Florian Brodbeck berichten im Gespräch mit «profil» von ihren Erfahrungen.
Sie haben 2016 mit der Umsetzung des Lehrplans 21 begonnen. Wie hatte sich Ihre Schule darauf vorbereitet?
Corina Robbi: Wir begannen 2016/2017 mit der Umsetzung. Während zweier Jahre konnten wir fachdidaktische Begleitangebote der PH beanspruchen. Dadurch erhielten die Lehrpersonen die Möglichkeit, sich in ihrem Fachgebiet fit zu machen für den Lehrplan 21. Danach beschäftigten wir uns mit dem Thema Beurteilung und mit den überfachlichen Kompetenzen.
Florian Brodbeck: Wir starteten etwas später. Bei uns gingen alle Schulleiterinnen und Schulleiter eineinhalb Tage an die PH, wo wir mit dem Lehrplan 21 vertraut gemacht wurden. Das war ein «Learning by Doing». Nach der Einführungsphase für die Schulleiterinnen und Schulleiter kam der Kick-Off für die Lehrpersonen. Es folgten Online-Module mit übergeordneten Schwerpunktthemen wie Kompetenzorientierung im Unterricht und in der Beurteilung. Daneben liefen die Weiterbildungen in bestehenden, aber auch neuen Fachbereichen, beispielsweise in WAH oder Medien und Informatik. Im Bereich Medien und Informatik gab es bei uns einen Entwicklungsschub. Hier hatten wir uns schon vor dem eigentlichen Projektstart Gedanken darüber gemacht, welche Voraussetzungen wir bezüglich der Infrastruktur würden erfüllen müssen. Als im Schuljahr 2017/2018 der Entscheid fiel, persönliche Geräte für die Schülerinnen und Schüler abzugeben, mussten wir Konzepte erstellen und die dafür nötigen Mittel budgetieren.
War die Umsetzung mit organisatorischen Änderungen und mit Anpassungen an der Infrastruktur verbunden?
Corina Robbi: Ja. Ganz klar. Bei uns war das Interesse sehr gross, gerade im Bereich Medien und Informatik weiterzukommen. Da prüften wir schon früh, welche Massnahmen nötig sein würden. Recht bald wurde klar, dass wir schon in der vierten Klasse mit dem Unterricht in Medien und Informatik beginnen wollten. Und da musste natürlich die entsprechende Infrastruktur zur Verfügung stehen, also galt es auch bei uns, diese Kosten zu budgetieren. Mittlerweile haben auch bei uns in Langnau alle Schülerinnen und Schüler ab der siebten Klasse ein eigenes Gerät. Wir mussten auch überlegen, mit welchen Programmen wir arbeiten wollten, und da entschieden wir uns für G Suite Enterprise for Education. Das zog einiges mit sich: Eine Schule, die mit Google arbeitet… Da mussten wir natürlich auch juristische Abklärungen treffen und sowohl Eltern wie auch einige Lehrpersonen von den getroffenen Datenschutzmassnahmen überzeugen. Mittlerweile arbeiten meines Wissens alle Kinder mit diesen Instrumenten, und sogar im Kindergarten werden iPads eingesetzt. Auch bei uns ging ein Ruck durch die Schule. Im Lockdown ergab sich dann mit dem Fernunterricht eine weitere Chance für uns. Da konnten wir die wahrscheinlich perfekte Medien-und Informatikweiterbildung absolvieren.
Florian Brodbeck: Es ist interessant, wie unterschiedlich die Kantone vorgehen. Bei uns wäre Google als Plattform undenkbar. Wir erhielten vom Datenschutzbeauftragten des Kantons eine Liste mit Programmen, die grundsätzlich erlaubt sind, und solchen, die wir während des Lockdowns ausnahmsweise nutzen durften. Entschieden hatten wir uns schliesslich für Office 365 von Microsoft. Auch bei uns erfolgte ein Investitionsschub im Bereich Informatik, aber nicht nur für Computer und Peripheriegeräte, sondern etwa auch für Leitungen, die neu gelegt werden mussten. Wir begründeten den Investitionsschub mit dem Lehrplan 21, aber nötig geworden wären die Investitionen ohnehin. So gesehen war der Lehrplan 21 ein Treiber dafür, die Infrastruktur zu aktualisieren.
Corina
Robbi
Corina
Robbi ist Schulleiterin in Langnau im Emmental. Sie ist verantwortlich für die
Schule Höheweg mit rund 200 Schülerinnen und Schülern (5. bis 9. Klasse). Zusätzlich
ist sie Stellvertreterin der Gesamtschulleitung und verantwortlich für rund
1000 Schülerinnen und Schüler.
Florian
Brodbeck
Florian
Brodbeck ist Schulleiter der Gemeinsamen Sekundarschule Erlenbach und
Herrliberg (GSEH) mit rund 200 Schülerinnen und Schülern.
Wurden Sie bei der Umstellung auf die Kompetenzorientierung gut begleitet?
Florian Brodbeck: Die Schulen sind extrem unterschiedlich unterwegs. Das stellte die PH vor grosse Herausforderungen. Klar war, dass es nicht ein Angebot für alle geben konnte. Also entwickelte die PH Module, die zur Verfügung gestellt wurden. Zum Beispiel zum Thema Kompetenzorientierung: Was ist das überhaupt, wohin soll die Reise gehen? Das war ein Basismodul. Auch zur Beurteilung wurden Module angeboten. Die grosse Frage für die Schulen war, wo Schwerpunkte gesetzt werden sollten. Da gingen die Interessen der Schulen zum Teil stark auseinander. Manche wollten fachlich Schwerpunkte setzen, etwa bei Medien und Informatik oder bei WAH, andere bei der Beurteilung, wie auch unsere Schule. Wir erarbeiteten gemeinsame Grundsätze zur formativen und summativen Beurteilung. Diese Freiheit, selbst Schwerpunkte setzen zu können, war nötig im Kanton Zürich, und das Angebot war wirklich sehr individualisiert, man konnte sich immer noch etwas hinzuholen.
Corina Robbi: Der Lehrplan 21 war für alle neu, auch für die pädagogischen Hochschulen, alle mussten sich einarbeiten. Und wie in anderen Bereichen auch: Haben wir uns erstmal eingearbeitet, sehen wir plötzlich einen Unterstützungsbedarf, den wir zuvor nicht erkannten. Wir werden von der PH sehr gut unterstützt. Es stehen uns immer wieder neue Online-Angebote zur Verfügung, und wir erhalten gute Werkzeuge, mit denen wir arbeiten können. Wir hatten von 2016 bis heute obligatorische Weiterbildungen mit der PHBern und mit schulentwicklung.ch. Künftig wird die Weiterbildung wieder freiwillig sein, werden die Lehrpersonen also selbst entscheiden können, in welchen Bereichen sie sich weiterbilden wollen. Darauf freue ich mich.
Florian Brodbeck: An der Schlussveranstaltung wurde bei uns nicht nur das Erreichte gefeiert, sondern der Kanton stand auch offen dazu, nicht alle Ziele erreicht zu haben. Zum Beispiel bei den Zeugnissen. Wir bemühen uns um formative und summative Beurteilungen, und am Schluss bilden wir all dies nach wie vor in einer einzigen Zahl ab. Diese Ehrlichkeit, dazu zu stehen, hier erst auf dem Weg zu sein, gefiel mir. Ich weiss nicht, Corina, wo ihr hier steht. Meines Erachtens stecken wir hier noch in den Kinderschuhen.
Corina Robbi: Das grenzte ja an ein Wunder, wäre das bereits etabliert! Auch wir stehen hier am Anfang, wir hatten erst eine Einführung. Schauen wir doch andere Lehrplaneinführungen an. Hier geht es um Haltungen, nicht einfach um ein Papier, nach dem ich mich richten muss. Es geht um Haltungen, um Menschenbilder. Das dauert Jahre, bis diese Haltungen verinnerlicht sind. Beurteilung entsteht bereits bei der Aufgabenstellung, und hier stellt sich die Frage, ob ich die Aufgabe so stellen kann, dass am Schluss eine wirklich ganzheitliche Beurteilung möglich ist.
Wie hat sich euer Team entwickelt?
Florian Brodbeck: Bei uns war sicher ein Vorteil, dass wir mehr Weiterbildungstage zur Verfügung hatten. Dadurch konnten wir mehr Zeit in die Team- und auch in die Schulentwicklung investieren. Unser Team hat sich besser kennengelernt in dieser Zeit. Um das Verständnis für die drei neuen Zyklen zu fördern und aufzuzeigen, dass eine stufenübergreifende Zusammenarbeit wertvolle Impulse vermitteln kann, lancierten wir das Projekt «Stufenwechsel». Alle Lehrpersonen der Sekundarstufe und die Lehrpersonen der unteren Stufen trafen sich zu einem Weiterbildungstag. Dort wurden dann Tandems gebildet mit je einer Lehrperson der Unter- oder Mittelstufe und einer der Oberstufe. Diese Tandems tauschten sich einen halben Tag darüber aus, wo sie in der Umsetzung des Lehrplans stehen, was sie unternehmen, welches ihre Sorgen sind. Am ersten Tag zeigten sich die Lehrpersonen ihre Schulzimmer, am zweiten Tag unterrichteten beide Lehrpersonen eine Lektion auf der anderen Stufe. Die Mehrheit fand dieses Projekt sehr gut, es förderte das gegenseitige Verständnis.
Corina Robbi: Die Zusammenarbeit hat sich bei uns auch verbessert. Wir richteten Zykluskonferenzen ein, da tauschen sich die Lehrpersonen desselben Zyklus aus. Weiter bestimmten wir Fachbereichsverantwortliche, die in der entsprechenden Konferenz ihren Zyklus vertreten. Wir haben das Glück, dass wir eine grosse Schule sind, so haben wir für jeden Zyklus und für jeden Fachbereich eine verantwortliche Person bestimmen können. Das ist wirklich sehr gewinnbringend und hat den Austausch über Inhalte, Unterrichtsideen und -sequenzen gefördert. Wir stellten in diesem Zusammenhang fest, dass uns eine Plattform fehlte. Inzwischen haben wir diese entwickelt. Es ist eine Wissensplattform, auf die alle Langnauer Lehrpersonen zugreifen können. Wir teilen uns Wissen. Das war ein Bedürfnis. Die Einführung des Lehrplans, die Weiterbildungen und die Einarbeitung in den Lehrplan 21 haben uns gezeigt, dass wir wegkommen von der Haltung «Meine Klasse ist meine Schule» hin zur Haltung «Wir sind miteinander unterwegs.»
Welches ist der grösste Gewinn, der mit der Einführung des Lehrplans 21 für Ihre Schule verbunden ist?
Florian Brodbeck: Für mich ist der enorme Schub in den Bereichen Schul- und Teamentwicklung der grösste Gewinn.
Corina Robbi: Für mich ist verstärkte Zusammenarbeit ein sehr positiver Aspekt. Da ging ein Ruck durch die ganze Schullandschaft. Die Zusammenarbeit, das Einander-Helfen, das Teilen, das ist eine sehr schöne Entwicklung. Ein kleines Problem sehe ich darin, dass wir mit dieser Kompetenzorientierung von den Schülerinnen und Schülern sehr viel verlangen. Für starke Schülerinnen und Schüler ist das sicher super, bei schwächeren stelle ich eine Überforderung fest.
Florian Brodbeck: Da stimme ich dir zu. Und ich glaube, es liegt nicht nur an stark oder schwach. Wir stellen sehr hohe Erwartungen an die Schülerinnen und Schüler in Sachen Selbststeuerung. Es gibt auch Schülerinnen und Schüler, die diese Anforderungen entwicklungsbedingt noch nicht erfüllen können.