08. Feb 2021
Remo Largo hat mit seinen Studien dem Anliegen des «Alters- und entwicklungsdurchmischten Lernens» wesentliche Impulse gegeben. Ein Nachruf von Heidi Gehrig, Autorin des Buches «Individualisierende Gemeinschaftsschule»
Lieber Remo,
wie oft haben wir über die Schule gesprochen und dazu
unsere Bücher ausgetauscht? Deine kritische Haltung gegenüber der
öffentlichen Schule hat mich immer herausgefordert und angespornt.
Während du dich vor allem für individualisiertes, altersunabhängiges,
kindgerechtes, entwicklungsorientiertes Lernen stark machtest, forderte
ich zusätzlich mehr Gemeinschaftsbildung, Demokratie und Menschenrechte
in der Schule. Es ist mir nicht gelungen, dir meine zusätzliche
Sichtweise nahezubringen. Dann aber hielt ich dein letztes Buch in den
Händen «Zusammenleben». Wie gerne hätte ich mit dir auch über dieses
Buch gesprochen.
Du hast bis zum Schluss mit der öffentlichen Schule
gehadert, weil du aufgrund deiner langjährigen wissenschaftlichen
Arbeit längst wusstest, dass unterschiedliche Entwicklungsstände
gleichaltriger Kinder normal sind, auch wenn diese bis zu vier Jahren
betragen. Du hast mich, die ich seit 1976 in der öffentlichen Schule
arbeite, immer wieder gefragt: «Warum glaubst du immer noch an die
öffentliche Schule? Sie könnte doch längst eine andere, kindergerechte
Schule sein!» Ich bin nach wie vor davon überzeugt, dass Veränderungen
nur dann möglich sind, wenn man sie in der Schule, zusammen mit allen
Beteiligten angeht. Deshalb bleibe ich dran und greife in meinen
Weiterbildungen auf Ergebnisse deiner fundamental wichtigen Arbeit
zurück.
Quelle: Von Urban Explorer Hamburg, http://www.sommer-in-hamburg.de
Du musstest mehrmals erleben, wie sich Lehrpersonen, Dozierende an Hochschulen, Schulleitungen oder Vertreter/innen aus Schulbehörden darüber ärgerten, dass sich ein «Nicht-Lehrer» erlaubte, den Experten aufzuzeigen, worauf es beim Lernen ankommt: «Remo Largo ist zu weit weg von der Schule.» (Regine Aeppli, 29.05.2012, Tagesanzeiger). Dabei warst du mit deinen Anliegen nahe beim Kind, also mittendrin. Als Anwalt der Kinder sprachst du nicht nur die Schulen, sondern auch die Eltern, die Schulbehörden und die Ausbildungsstätten an. Wir haben es auch zusammen versucht:
An einem Elternabend in einer Schule, die auf das Mehrklassensystem mit AdL (altersdurchmischtes Lernen) umstellte, zeigtest du auf, wie unterschiedlich die Entwicklungen der Kinder und Jugendlichen verlaufen. Die Eltern hingen dir an den Lippen, glaubten dir jedes Wort. Du konntest sie auch beruhigen: Die Kinder sind nun mal verschieden und das ist ganz normal. Dann zeigte ich auf, wie Schule sein könnte, z.B. mit veränderten Klassenstrukturen (Mehrklassen) und dem pädagogischen Ansatz des AdL, mit Partizipation der Kinder und Jugendlichen beim Lernen. In der Fragerunde meldete sich ein Vater: «Frau Gehrig, lernen die Kinder in einer solchen Wohlfühlschule überhaupt etwas?» Ich wollte antworten, da batest du mich, zuerst etwas sagen zu dürfen: «Sehen Sie, wir können wissenschaftlich nachweisen, dass Lernen nur dann nachhaltig erfolgen kann, wenn sich Kinder wohlfühlen. Wenn ihr Kind heimkommt und müde ist vom Schulvormittag, weil es so anstrengend war, vollgepackt mit Hektik durch Stundenwechsel, Zimmerwechsel, Lehrpersonenwechsel, gestresst durch vorgegebene Lerninhalte, Lernkontrollen, Zeitdruck usw. dann können Sie sicher sein, dass es nichts oder wenig gelernt hat. Wenn es jedoch heimkommt und begeistert darüber berichtet, wie es heute Vormittag zusammen mit einem anderen Kind an ihrem gemeinsamen Projekt gearbeitet hat und welche Fragen dabei aufgetaucht sind und dass sie sich für das Angehen dieser interessanten Fragen Zeit nehmen konnten, dann können Sie sicher sein – ihr Kind hat viel gelernt.» Du sprachst auch von der Relevanz eines lernförderlichen Klimas, das geprägt ist von Wohlbefinden, Sicherheitsgefühl, Geborgenheit, Akzeptanz und Autonomie und von lernhemmenden Faktoren wie Beschämungen, Ausgrenzungen, Erwartungsdruck, Stress, Vergleiche mit anderen, Zeitdruck, Notendruck. Ich hatte deinen Ausführungen nichts mehr hinzuzufügen.
Dieses Wesentliche hat uns immer wieder beschäftigt. Wir rieben uns zum Beispiel an Fragen wie
Und jetzt lässt du uns allein mit diesen Fragen. Wir hatten in dir einen Verbündeten. Es liegt nun an uns, dafür zu sorgen, dass deine Forschungserkenntnisse, deine Erfahrungen und deine Forderungen an die Schulen, an Eltern, Lehrpersonen, Schulleitungen und Dozierende breitflächig respektiert und genutzt werden – im Interesse und zum Wohl unserer Kinder und Jugendlichen. Ich kenne viele Schulen, die trotz aller Widerstände gut unterwegs sind. Hab Geduld mit ihnen und freue dich mit uns – wo immer du auch bist – über jeden erfolgreichen Schritt!